Vortrags-Show

Wir sind nicht hinten!

Sobald wir das Internet einschalten (aka früher: die Zeitung aufschlagen), kommt es uns entgegen: „Deutschland, Europa in der Digitalisierung abgehängt!“, „Vorsicht Deindustrialisierung in Deutschland – wichtige Industrieunternehmen wandern ab!“, „Wir sind das Schlusslicht!“ – die Zukunft scheint uns zu überholen: die USA, China … ja, „das“ sind Länder die Zukunft gestalten! Uns scheint nur die Rolle der „Region Obsoletus“ zu bleiben – in wenigen Jahren ohne Bedeutung. Wir scheinen noch im Ackerbau zu arbeiten, während die anderen digital enteilen.

Vielleicht ist das alles aber auch ein großes Missverständnis. Vielleicht denken wir ja über die falschen Probleme nach oder vergleichen Äpfel mit Birnen. Eine Region wie Europa oder auch Deutschland hat in seiner strukturellen und gesellschaftlichen Vielfalt tatsächlich eine ganz andere Rolle als riesige Monoländer wie die oben genannten. Unser Problem könnte daran liegen, dass wir andererseits versuchen genau diese Länder zu kopieren. Das ist ein bisschen so, als würde man in der australischen Steppe einen Pinguin gegen ein Känguru antreten lassen. So arbeiten wir zwar – aber zu oft an den falschen Themen.

Wenn wir heute über Innovationen reden, dann schauen wir gerne auf die USA oder China und deren Meta-Technologien wie das Internet oder die Künstliche Intelligenz (KI), die sie maßgeblich entwickelt haben und die heute als die Eisenbahn und die Elektrizität der Neuzeit gelten. Schnell wird der Ruf laut: das müssen wir auch – und wenn wir das nicht haben, sind wir hinten. Denn wir sehen nur die großen Innovationen und wie viele (eigentlich sind es übrigens wenige) Unternehmen damit reich werden. Das scheint nachahmenswert zu sein, denn hier werden ja „Werte“ geschaffen. So treten wir in einen industriellen (nicht digitalen) Wettkampf und nennen das „Benchmarking“: „Wir brauchen hier in Europa Unternehmen wie Google oder OpenAI“ ist dann schnell die Lösung, eine eigene Cloud-Lösung, Serverfarmen usw. Wir sehen dabei nur die Unternehmen, deren schiere Größe, und weniger den volkswirtschaftlichen Sinn. Nicht mal fragen wir uns ob das die Art ist wie wir zukünftig arbeiten wollen. Wir reden links von NewWork und schielen rechts auf Strukturen, die nichts damit zu tun haben.

Wir vergessen dabei, dass wir hier in Europa in einem ganz anderen Innovationszyklus leben als die oben genannten Länder. Wir haben gar nicht die Strukturen für die Entwicklung und Etablierung solcher Meta-Technologien. Hierzu fehlt uns die schiere Größe, das Kapital und viele Strukturen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die eine solche Entwicklung erst möglich machen. Sind wir deshalb aber „hinten“? Nein, unser Innovationszyklus ist nur ein anderer.

Aufgrund der Vielfalt an Kulturen, Nationen und unterschiedlichen Ansätzen Lebens- und Wirtschaftsqualität zu definieren, sind wir hier in Europa immer schon diejenigen, die aus großen Meta-Technoloigen die Innovationen herausarbeiten, die sich tief in den Alltag von Menschen integrieren: also die Lichtschalter für die Elektrizität sozusagen. Dabei kommt uns nicht nur unsere regionale und lokale Vielfalt zugute, sondern auch der Umstand, dass wir parallel zu diesen neuen Möglichkeiten auch sehr viel gesellschaftliche Innovationen hervor bringen: wie wollen und können wir miteinander leben und arbeiten.

Wir vergessen das schnell: aber große Innovationen wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Elektrizität, wären ohne gesellschaftliche Innovationen und vor allem Innovationen im Bereich der Arbeit, niemals so erfolgreich gewesen. Tatsächlich ergänzen sich beide Strukturen hervorragend. Auch bei einer der großen Meta-Innovationen der Arbeit, dem Taylorismus, der in den USA bei Ford seinen Durchbruch erlebt hat. Wir haben ihn in Europa übernommen, jedoch mit Anpassungen in sozialen Standards und Arbeitsrechten um einer allgemeinen Lebensqualität in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft besser zu entsprechen. Auf diese Weise entstand eine Art „modifizierter Taylorismus“ der eine Steigerung von Effizienz und Produktivität mit einer sozial integrativen Struktur und Lebensqualität für weite Teile der Bevölkerung verbindet. Diese erhöhte Form der sozialen Gleichheit und Integration in unterschiedlichster Typen in den gesellschaftlichen Alltag, hat wiederum für eine breitere Basis für Innovationen gesorgt, die genau dieser Struktur entsprechen. Ein Zyklus, der sich mehrfach in allen möglichen Formen der Innovationen wiederholt hat: die Meta-Innovationen kommen meist aus großen Mono-Strukturen, wohingegen die fortlaufenden Innovationen in polyzentralen Strukturen wie bei uns hier in Europa entstehen. Deutschland hat mit seiner föderalen Struktur noch mal einen besonderen Vorteil darin (zumindest wenn wir ihn nutzen und uns nicht selbst im Weg stehen), denn es ist in sich selbst noch mal in einem kontinuierlichen Innovations-Wettstreit. 

Wie gesagt: das eine ist nicht schlechter als das andere. Im Sinne einer ausgeglichenen Entropie (also dem Maß für die Unordnung oder Grad an Zufälligkeit, Vielfalt und Innovation in einem System, das die Anzahl der möglichen Mikrozustände angibt, die zu einem makroskoischen Zustand, also Meta-Innovationen beitragen) fügt man beide zusammen und partizipiert so einer vom anderen – man spricht von einer klassischen Win-Win Situation.

Aus dieser Kombination heraus haben wir hier in Europa und Deutschland immer unsere Stärken gezogen und gleichsam Technologie bis in kleinste Details, parallel mit gesellschaftlicher Innovation und neuen Formen der Arbeit entwickelt. Immer? Nun, mit den 1970er Jahren haben wir zunehmend anderen Idealen gehuldigt: amerikanische Managementstrukturen und Bewertungssysteme haben wir in unsere Kultur gelassen und sie, dem kurzfristigen Gewinn sei dank, auch durchsetzen können. Langfristig haben wir uns damit entgegen unserer eigenen Fähigkeiten auf einen Wettkampf eingelassen, den wir nicht gewinnen können. Unsere eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten haben wir hingegen vernachlässigt oder schlimmer noch; nicht wertgeschätzt, selbst wenn sie umgesetzt wurden.

gepaart mit „je größer und globaler, desto besser“, haben wir Vollgas gegeben und uns mitreißen lassen in einen Sog der von, im Wesentlichen, amerikanisch geprägten Beratungsunternehmen vorgegeben wurde. Wir haben versucht Strukturen bei uns einzuführen, die schlichtweg nicht zu uns passen. Ein Beispiel ist der globale „War of Talents“ in dem wir glaubten, dass nur wenige internationale Stars in der Lage sind Unternehmen zu führen und der monotheistischen Weltordnung zu huldigen. Dabei haben wir die in Europa viel breiter vertretene „Innovation durch (sozial-ethische) Werte“ zunehmend vernachlässigt. Man könnte auch sagen: wir haben uns zunehmend auf einen Wert reduziert: den Share-Holder Value – und den auch noch falsch verstanden, nämlich als reinen Finanzgewinn.

Ein solcher Finanzgewinn, vor allem wenn er möglichst groß ausfällt, mag global für Vergleichslisten spannend sein, führt für uns in Europa aber zu einem Ranking in dem wir niemals vorne sein können. Das frustriert. Dazu kommt noch die individuelle Frustration der arbeitenden Bevölkerung: sie hat von diesem Gewinn nämlich in der Regel nichts bis wenig. Die eigene Qualität der Arbeit und die Fähigkeiten sind immer weniger wert, es sei denn sie dienen der Gewinn-Optimierung oder der globalen Größe. Immer verbunden mit dem Angst-Satz: nur globale Unternehmen sind wettbewerbsfähig. Die wirklich globalen Unternehmen haben aber die anderen … Sie merken, wir reden uns klein und kleiner. Und das bereits über Jahrzehnte. Und wir entkoppeln zunehmend die Arbeit und Fähigkeiten einzelner Menschen von den Strukturen in denen sie tätig sind.

Eine globale Erzählung der Industrialisierung hat uns in diesem Weg  unterstützt. Nicht falsch verstehen: es war nicht alles falsch was wir getan haben. Globale Netzwerke zu knüpfen, neue Produktionsmethoden, all das hat uns ja auch weiter gebracht. Zunehmend aber haben wir unsere gesellschaftlichen Werte wie auch die finanziellen Werte aber außer Kraft gesetzt bzw. Äpfel mit Birnen verglichen. 

A propos Äpfel: klar, natürlich kann man sagen: Apple! Die haben Beides. Die Meta-Technologie und die Integration in die gesellschaftlichen Strukturen und Alltagsprodukte. Einigen wir uns hier bitte auf Folgendes: für alles gibt es Ausnahmen und Apple hat für diese Produkte viel in Europa abgeschaut: nicht nur bei Dieter Rahms, dem großen BRAUN-Designer, nahezu alle Apple-Produkte gehen hierauf zurück, sondern auch in der Vielfalt der gesellschaftlichen Anforderungen an Technologie, sei es Hard- wie Software, die es braucht, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Eine solche Vielfalt findet auch Apple nur in Europa – und übrigens auch zunehmend chinesische Unternehmen (Beispiel NIO, als einer der innovativsten E-Auto-Hersteller). Sie kommen hier hin, weil sie nur hier die Möglichkeit haben so tief in parallele technologische wie gesellschaftliche Innovationen einzutauchen und daran ihre Produkte für möglichst viele verschiedene Menschen (nicht Zielgruppen, das geht heute besser) zu optimieren. 

Ich weiß gar nicht, ob „Deindustrialisierung“ so ein negativer Begriff ist. Immerhin, wir leben inzwischen in der Digitalität (wir nutzen diesen Begriff in der Forschung und ich finde ihn passender: digitale Technologie plus Realität gleich Digitalität), da ist es doch nur logisch, wenn die Industrialisierung zurück geht. Ziehen wir den Scope doch mal weiter auf: würden wir in einem Land leben, dass seinerzeit nicht die agrarwirtschaftlichen durch industrielle Strukturen ersetzt hätte, würden wir heute noch in der Agrarwirtschaft leben! Denn wohin zieht es die Unternehmen die zur Deindustrialisierung in Deutschland beitragen: in der Regel in Länder die nicht so weit entwickelt sind, wie wir heute. Die weniger innovative Strukturen in zentralen Bereichen der Gesellschaft entwickelt haben oder dabei sind, darauf umzustellen.

Die Frage ist nur: was machen wir daraus? Lassen wir die freiwerdenden Räume leerstehen und sehen wir einfach zu wie Wirtschaftskraft verschwindet oder gehen wir mit gesellschaftlich-wirtschaftlicher Innovationskraft voran, besinnen uns auf unsere Stärken und machen aus künstlicher Intelligenz (OpenAi hat uns das Elektrizitätswerk gebaut) endlich Lichtschalter und Transistorradios (und die unendlich vielen weiteren Alltagsinnovationen mit denen wir einst Weltklasse wurden), damit weite Teile unterschiedlichster Bereiche der Bevölkerung an den neuen Möglichkeiten der Digitalität partizipieren können?! Schaffen wir dazu neue Modelle für Familie, Bildung, Städte, gesellschaftliche Gesundheit und insgesamt eine neue From der Lebens- und Wirtschaftsqualität, in der zunehmend Menschen leben möchten?

Denn wenn wir das tun, ziehen wir auch zunehmend die Talente an, die mit uns gemeinsam diesen Teil des Innovationszyklus entwickeln wollen. Diesen Menschen geht es dann nicht darum im World-Index der Top-500 Unternehmen zu arbeiten, sondern mit ihren Innovationen langfristige stabile Gesellschaften mitzugestalten. 

Zukünftig werden wir keine zentrale große KI brauchen in den meisten Fällen, sondern eine dezentrale, souveräne KI die lokal und sicher auf unserem Device arbeitet und mit unseren Daten genau die nachvollziehbaren Lösungen für uns entwickelt, die wir gerade brauchen. Solche Strukturen und Ideen werden in Europa viel besser zu entwickeln sein, wenn wir uns endlich wieder darauf besinnen was wir können. Wir können mit diesem Wissen und unseren Ergebnissen dann mit den globalen Strukturen und den Meta-Innovationen kollaborieren und damit nicht nur wieder neue Lebensqualität für breitere Teile von Gesellschaften entwickeln, sondern mehr und mehr Menschen wieder einbinden ihre Fähigkeiten, Qualitäten und individuelle Motivation auszuleben, statt mehr oder weniger zuzuschauen, wie wir auf dem internationalen Ranking weiter abrutschen.

Vielfalt der Gesellschaft heraus entstehen, wie es sie nur hier in Europa gibt. Hören wir also endlich auf uns zu vergleichen mit Strukturen denen wir in Form schierer Finanzgröße niemals das Wasser werden reichen können. Führen wir lieber wieder die Ranglisten der Innovationen im Bereich der Arbeit und Gesellschaft an und vertrauen wir uns darin Innovationen hervorzubringen, welche am Ende auf der ganzen Welt von vielen Menschen in ihrem Alltag genutzt werden um lokal Lebens- und Wirtschaftsqualität herzustellen.

Das ist „made in Germany“ neu gedacht oder noch besser „made in Europe“, denn über die größere Vielfalt bekommen wir noch schneller die Innovationen die wir in der Digitalität brauchen und haben noch mehr Spielraum um gemeinsam und kollaborativ mit globalen Strukturen eine Vielzahl von Werten zu erzeugen.

In vielen Unternehmen und Regionen höre ich heute immer wieder: lasst uns irgendwas mit KI machen, egal was, wir dürfen den Anschluss nicht verpassen. Darum geht es nicht: es geht darum, die neuen Möglichkeiten zu nutzen um auf Basis der neuen Meta-Innovationen das Leben für eine Vielzahl an Menschen positiv zu gestalten. Die hierzu notwendigen Innovationen kann nur (okay: am Besten) eine Struktur wie Europa erfinden. Menschen dabei Möglichkeiten zu bieten sich bei der Arbeit mit ihren Fähigkeiten einzubringen und entsprechend von den dabei geschaffenen Werten (ökonomisch, ökologisch und sozial – Sie kennen das) zu partizipieren, wird dazu führen, dass diese zunehmend wieder hier leben und arbeiten wollen. 

Derart Werte zu schaffen ist übrigens auch ein großartiges Mittel gegen Populismus: Menschen zeigen, wie sie mit ihrer eigenen Arbeit zu ihrem und dem Wohl der Gesellschaft gleichermaßen beitragen und stolz darauf sein können. Stolz, weil sie in der Rangliste der Lebensqualität und Authentizität des Lebens ganz weit vorne sind und nicht nur in der Liste der Börsenkurse. Es geht also nicht nur um KI oder regenerative Energien usw., sondern es geht darum mit Hilfe von KI, regenerativen Energie und vielem anderen eine positive Lebens- und Wirtschaftsqualität für möglichst viele Menschen herzustellen.

Europa kann nicht USA oder China sein – und das ist gut so! Und in Zukunft noch viel besser, wenn unser Innovationszyklus von uns aufgegriffen und in alltägliches Leben und Arbeiten umgesetzt wird.

Foto: Managementimpulskongress/Studiohorst